
Das Kulturbüro Mülheim veranstaltete in den letzten zwei Monaten ein vom Landschaftsverband Rhein gefördertes Erzählprojekt unter der Projektleitung von Selma Scheele.
Erzähler*innen aus der Region und Künstler*innen der bildenden Kunst gingen an Schulen, Kindergärten oder Seniorenheime. Geschichten wurden erzählt, erfunden, bebildert, gebaut.
Ich hatte das große Vergnügen, 8 Termine mit Kindern aus allen dritten Klassen der Astrid-Lindgren-Schule zu haben.
Eine Besonderheit an diesem Projekt: es ging vor allen Dingen darum, den Kindern zu ermöglichen, in professionell erzählte Geschichten einzutauchen, sie zu erleben, ihre Fragen an die Geschichten zu stellen und gemeinsam zu lauschen. Die Freude am Zuhören zu erleben, an der Lebendigkeit der erzählten Geschichten. Dadurch öffnete sich quasi von allein die Tür zum eigenen Erfinden von Geschichten. Und dazu – und das ist die zweite Besonderheit dieses Projektes – die Orte und einige Figuren, ob erlauscht oder selbst erfunden, aus Lego nachzubauen. Dies geschah unter der Leitung des Brick Artists Cole Blaq.
Ich bin noch ganz bewegt davon, wie begeistert die Kinder die Geschichten aufgenommen haben. Große Freude hatte ich z.B. an dem Gespräch über das Verhalten des Müllers im Märchen Rumpelstilzchen: er bringt seine Tochter in Gefahr, offensichtlich aus eigennützigen Motiven, und erweist sich dadurch nicht als guter Vater. Oder denkt er doch auch an seine Tochter, wenn er den König davon überzeugen will, dass seine Tochter Stroh zu Gold spinnen kann? Will er ihr, wenn auch auf gefährliche Art und Weise, eine Chance geben, das arme Leben zu verlassen? Ist es ihm gleichgültig, wie es seiner Tochter beim König ergeht? Oder hatte er irgendwo das Vertrauen in sie, dass sie die Situation meistern wird? In der Tat schafft es die Müllerstochter, die gefährliche Situation zum Guten zu wenden und schließlich sogar die Kraft, die ihr Kind bedroht zu besiegen. So kann auch aus sehr dunklen Situationen Gutes erwachsen, letztlich eine Hoffnungsgeschichte, wie so viele Zaubermärchen Hoffnung darauf geben, dass schwierige Situationen im Leben bewältigt werden können.

In den ersten Terminen hatten wir Zeit, Bilder von den gehörten Geschichten zu malen, weil die ersten zwei Termine reine Geschichtentermine waren. Ab dem dritten Termin war Cole Blaq mit dabei und die Kinder verbrachten die Hälfte der Zeit mit ihm, die andere Hälfte mit mir. Die zwei Gruppen waren ganz unterschiedlich. Während die eine dabei blieb, viele Fragen an das Gehörte zu stellen und Vermutungen anzustellen, was an der einen oder anderen Stelle gemeint sein könnte, stürzte sich die andere Gruppe begeistert in das Abenteuer, selbst Geschichten zu erfinden. Für mich war es immer wieder schön, dass die Kinder Elemente aus der zuvor gehörten Geschichte in die eigene einbanden und sie damit bereicherten. Es gab große und lange Geschichten, die die ganze Kleingruppe erfand und ein paar kleine Geschichten, die sie in 2er oder 3er Gruppen ersannen. Diese Geschichten dienten zur Inspiration für die Lego-Werke. Am letzten Termin war es umgekehrt: da dienten die Lego-Werke zur Inspiration für kleine Geschichten, die z.B. einen Aspekt aus einer der größeren Geschichten weiterspannen oder überhaupt Anlass gaben, noch einmal eine neue Welt zu eröffnen.
Nun ist das Projekt an der Astrid-Lindgren-Schule beendet. Einige der Geschichten werden in einer kleinen Broschüre zum Gesamtprojekt zu lesen sein.
Am 14.6. zum Erzähltag am Goetheplatz in Mülheim wird sie fertig sein. Ich freue mich darauf.
Ein paar Geschichten und Bilder, die zu den gehörten Märchen gemalt wurden, darf ich an dieser Stelle schon veröffentlichen.

Hier sind zwei Geschichten, die die Kinder erfanden:
„Es waren einmal ein König und eine Königin, die hatten einen kleinen Sohn. Eines Tages unternahmen sie einen Ausflug mit der Kutsche und der kleine Prinz war in seiner Babytrage dabei. Ohne, dass die Eltern es bemerkten, fiel die Babytrage von der Kutsche und Prinz Leo war im großen Wald allein. Er krabbelte aus der Trage heraus und im Wald herum. Dort fand ihn eine weiße Taube. Sie nahm ihn mit, brachte ihn in ein Baumhaus, das wie ein Nest war und versorgte Leo mit allem, was er brauchte. Der König und die Königin suchten ihren Sohn, aber der Wald war so groß, dass sie ihn nicht fanden. So wuchs der Prinz im Wald auf. Nahe am Baumhaus war ein Fluss, über den eine Brücke führte. Eines Tages, als Leo schon erwachsen war, traf er dort eine junge Frau. Sie war eine Prinzessin und hieß Lena. Lena liebte lange Spaziergänge im Wald und so war sie an diesem Tag sehr weit gegangen. Sie kam von dem Schloss und war die Tochter vom König und der Königin. Die beiden waren immer traurig geblieben, dass sie Leo nicht mehr gefunden hatten und so bekamen sie noch einmal ein Kind, das sie aufziehen konnten. Dies war Lena. Lena wusste gar nicht, dass sie einen Bruder hatte. Als sie Leo an der Brücke traf, gefiel er ihr gleich und sie gefiel ihm. Lena fragte: „Willst du mit ins Schloss kommen?“. Das wollte Leo gern. Als Lena mit Leo zu ihren Eltern kam, erkannten sie ihn und schlossen ihn in die Arme. So war die Familie wieder komplett.“

„Es war einmal ein junger Dino mit dem Namen John Carlos. Er liebte es, an den Sternenhimmel zu schauen, machte nichts lieber als das. Und weil er jede Nacht zu den Sternen schaute, war er am Tag immer ganz müde. In der Schule wurde er dafür ausgelacht und „Schlafmütze“ genannt. Alle fanden John Carlos langweilig und langsam. Was John Carlos selbst nicht wusste: Er konnte fliegen und zwar bis zu den Sternen. Einmal schaute er zum Polarstern und wünschte sich so fest wie er konnte, dass er diesen Stern besuchen könnte. Da kam eine Sternschnuppe und erfüllte ihm den Wunsch. Er flog zum hell leuchtenden Polarstern und dort blieb er. Seitdem leuchtet der Polarstern noch heller.“

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