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Märchenmund | Mitten in den Rauhnächten
Märchen erzählt von Erzählerin Melody Reich
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Mitten in den Rauhnächten

 

Das Jahr hat begonnen, die großen Feiertage liegen hinter uns, das alte Jahr ist abgeschlossen, das neue liegt noch wie ein Traum vor uns. Wir befinden uns mitten in den Rauhnächten, eine Zeit, die mich mehr und mehr fasziniert und mir immer wichtiger wird. Deshalb möchte ich heute ein paar Gedanken über diese Zeit aufschreiben und Informationen über sie weiter geben, die ich in den letzten Jahren in verschiedenen Schriften gesammelt habe.

Um die Zeit zwischen dem 25.12. und 6.1. ranken sich viele alte Bräuche, Geschichten und Aberglauben. Wobei sich Vieles, das mit den Rauhnächten zusammenhängt, nur erahnen lässt – und genau das passt zu dieser Zeit. Es ist eine Zeit der Ahnung, der Vision, aber auch der Rückschau und des Abschlusses.

Schon die Datierung der Nächte ist nicht einheitlich. Manche sprechen von nur vier Rauhnächten: die Wintersonnenwende am 21.12., die Christnacht am 24.12., Silvester am 31.12. und die Nacht der heiligen Drei Könige vom 5. auf den 6.1. Diese vier Nächte gelten als die wichtigsten. Am weitesten verbreitet ist heute wohl die Ansicht, dass die erste Rauhnacht um Mitternacht des 24.12. beginnt und die letzte um Mitternacht des 5.1. endet.

Diese Zeit galt als eine magische, in der die Tore zur Anderswelt weit offen stehen, in der Wesen aus dem Jenseits ins Diesseits gelangen und umgekehrt.

Wahrscheinlich hat diese Zeit als eine besondere ihren Ursprung darin, dass es eine Differenz zwischen dem Mond- und dem Sonnenjahr gibt. Das Mondjahr hatte 354 Tage, also zwölf Monate zu je 29,5 Tagen, das sind 12 Nächte weniger als das Sonnenjahr zählt. Somit sind diese 11 Tage und 12 Nächte so etwas, wie zusätzliche, geschenkte Tage, eben die Zeit „zwischen den Jahren“.

In der Zahlensymbolik ist die Zahl Zwölf ein Symbol für eine in sich selbst geschlossene Ganzheit, für einen vollständigen Zyklus der kosmischen Ordnung, ebenso für die räumliche und zeitliche Vollkommenheit und die menschliche Vollständigkeit, in ihrer geistigen wie körperlichen Qualität. Zwölf ergibt sich, wenn man drei und vier multipliziert. Die Drei steht für Göttlichkeit, die Vier für das Weltliche, Materielle. Die Zwölf wird so zur heiligen Zahl, die Vereinigung von geistiger und weltlicher Ordnung. So verwundert es nicht, dass die Zwölf uns oft in Geschichten begegnet, so z.B. die zwölf Stämme Israels, die zwölf Jünger Jesu, zwölf Ritter an der Tafelrunde des Königs Artus, ursprünglich gab es zwölf olympische Götter.

Alte Sagen und Geschichten berichten davon, dass in den Rauhnächten Odin , der Göttervater der nordischen Mythologie, auf seinem achtbeinigen Schimmel Sleipnir unterwegs ist. Als Anführer eines wilden Geisterheeres treibt er sein Unwesen in Wäldern und Dörfern. Aber auch Frau Holle, oder wie sie in der Alpenregion genannt wird, Frau Berchta oder Frau Perchta, ist in dieser Zeit unterwegs, verteilt ihren Segen an diejenigen, die sich an alte Bräuche und Vorschriften halten und straft diejenigen, die gegen ihre Regeln verstoßen. In meinem Programm „Märchen von Winter und Rauhnacht“ erzähle ich einige Geschichten über das Treiben Frau Holles in den Rauhnächten.

In den Rauhnächten haben die Menschen früher ihre Häuser und Ställe geräuchert, um alte, verbrauchte Energie hinaus zu schicken und wachsam zu werden für die geistige Welt. Es kann sein, dass die Rauhnächte ihren Namen aus diesem Brauch ableiten. Vielleicht kommt der Ausdruck aber auch auf das mittelhochdeutsche „ruch“ zurück, das „wild“, „haarig“ und „pelzig“ heißt, was wiederum ein Bezug zu den Perchtenumzügen herstellt, bei denen wilde, pelzige Gesellen durch die Straßen ziehen.

Das Räuchern kann beim Stillewerden und sich nach innen kehren helfen. Die Zeit zwischen den Jahren kann als eine Einladung verstanden werden, sich genau dafür Zeit zu nehmen, und das ist das, was mich an den Bräuchen rund um die Rauhnächte sehr anspricht: bewusst innehalten, Rückschau auf das alte Jahr halten, innerlich Abschluss für Vergangenes zu bewirken und hellhörig dafür zu werden, welche Themen im neuen Jahr anstehen. Meditation und Märchen sind gute Begleiter für diese Zeit. In diesem Sinne möchte ich zum Abschluss hier noch ein Märchen teilen:

 

„Es war einmal ein Mädchen, das hieß Marie. Sie war traurig, da ihr Bruder gestorben war, den sie sehr geliebt hatte. Ihr Vater war meist auf Reisen, ihre Mutter war schon lange tot und ihre Stiefmutter eine hartherzige Frau. Die Stiefmutter hieß ebenfalls Marie und deshalb rief sie die kleine Marie nur Dumm-Mara.

So geschah es denn an einem kalten Wintertag, dass die Stiefmutter überlegte, wie sie der kleinen Marie eine schwere Aufgabe geben könnte. „Dumm-Mara!“, rief sie. „Geh, wasch die Kleider, damit sie zum Kirchgang sauber sind. Es ist kein Wasser im Haus. Du musst zum Brunnen.“

„Aber der Brunnen ist doch zugefroren.“, sagte Marie.

„Komm mir nicht mit Ausreden, sonst wird es dir schlecht ergehen!“ war die Antwort der Stiefmutter.

Also ging Marie mit der Wäsche zum Brunnen. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, denn sie wusste wohl, dass man den Rauhnattagen nicht waschen soll – und wie sollte sie das auch tun, wo doch der Brunnen zugefroren war? So saß Marie am Brunnen und weinte.

Da brach das Eis, und aus der Tiefe des Brunnens kam ein warmer Hauch. Marie blickte in den Brunnen uns sah eine golden glänzende Leiter, die in die Tiefe führte. Marie zögerte, doch dann fasste sie sich ein Herz und stieg hinab.

Als sie unten am Brunnengrund angekommen war, war dort ein kleines Bächlein, das munter plätscherte. Es floss durch ein kleines Tor, und dahinter war eine blühende Sommerwiese. Marie staunte und folgte dem Fluss des Bächleins. Den Korb mit Wäsche hatte sie noch auf dem Rücken. Sie nahm ihn ab und begann, die Kleider im Bächlein zu waschen. Da trat eine Frau auf sie zu, die war groß und strahlend, wie eine Königin.

„Kind, weißt du nicht, dass die in der Zeit der Rauhächte nicht waschen darfst? Das ärgert Frau Holle.“

Marie wurde rot und verneigte sich. „Verzeiht mir, Herrin. Ich weiß es wohl, doch meine Stiefmutter hat es mir befohlen.“

Die Herrin sah Marie streng an. „Noch dazu wäschst du in meinem Bach. Auch das ist nicht erlaubt. Nun musst du bei mir bleiben und mir dienen.“ Marie dachte bei sich, dass es nicht schlimmer sein konnte als bei ihrer Stiefmutter und so neigte sie den Kopf und folgte der Herrin in ein großes Haus. Dort gab es viel zu tun: Zu putzen, zu kochen, zu spülen, zu backen und die Betten zu machen. Nur das Ausschütteln der Betten wollte die Herrin selbst tun: „Wenn ich die Betten schüttle, dann schneit es auf der Erde.“

Marie tat fleißig alles, was ihr geheißen wurde, und die Herrin gewann sie lieb. Abends am Feuer erzählte sie Marie von Geheimnissen und wilden Dingen, auch von den Unterirdischen und den Himmlischen. Sosehr sich Marie auch bemühte, sich die Geschichten zu merken, so waren sie doch wie Träume, an die sich die Gefühle wohl erinnern, aber nicht die Gedanken.

Manchmal kamen wilde Reiter, und die Herrin ritt mit ihnen aus. Marie hütete dann das Haus, und da sie alles in Ordnung hielt, lobte die Herrin sie. Eines Tages sprach sie: „Marie, du hast mir gut gedient, und ich würde dich gern bei mir behalten, doch das geht nicht. Bevor du mich aber verlässt, will ich dir noch ein Geschenk machen. Tritt durch die Tür, die du bisher nicht öffnen durftest, mein liebes Kind.“ Sie strich Marie zart über den Kopf, und Marie fühlte sich, als hätte ein Engel sie geküsst. „Denk an das, was dir am liebsten ist.“

Marie tat, wie ihr geheißen. Sie öffnete die Tür und trat in einen Garten, der war noch wunderbarer als alles, was sie bisher gesehen hatte. Jemand rief sie beim Namen, und ihr Herz machte einen Satz: Das war Johannes, ihr Bruder! Sie hatte sich gewünscht, ihn noch einmal wiederzusehen und nun war er hier.

Die Geschwister fielen sich in die Arme, und Marie sah, dass ihr Bruder nicht mehr schwach und krank war, wie zu der Zeit, als er von ihr gegangen war – er war stark und gesund, und aus ihm strahlte ein inneres Leuchten.

Als es dämmerte, verabschiedete sich ihr Bruder: „Hab keine Angst, Marie. Mir geht es so gut hier – und eines Tages wirst du wiederkommen und bei mir bleiben. Bis es so weit ist, werde ich immer über dich wachen und sehen, dass es dir gut ergeht!“

Marie weinte ein wenig, aber nicht sehr, denn die Worte des Bruders hatten sie sehr getröstet, Johannes nahm sie bei der Hand, führte sie zu einem Tor und gab ihr einen Abschiedskuss.

Als Marie durch das Tor trat, wurde es mit einem Mal ganz kalt, und sie stand vor dem zugefrorenen Brunnen. Ihr Korb mit der gewaschenen Wäsche stand vor ihr, und zwischen den Kleidern funkelten Gold und Juwelen. Eilig sprang Marie nach Hause. Was würde wohl die Stiefmutter sagen – sie war doch lange Zeit fort gewesen.

Doch die Stiefmutter wunderte sich gar nicht darüber, denn in der Welt außerhalb des Brunnens war nur eine Stunde vergangen. Sie wollte Marie schon ausschelten, da sah sie, dass nicht nur die Wäsche gewaschen war, sondern wie neu aussah – und dass der Korb voller wertvoller Edelsteine und Gold war.

„Ja, Dumm-Mara, wie hast du das gemacht?“, fragte sie und versuchte freundlich zu sein. Marie erzählte ihr alles.

Ohne weitere Worte zu verlieren, raffte die Stiefmutter alte, schmutzige Kleider zusammen und lief aus dem Haus, zum Brunnen. Aber der war zugefroren. Wütend schlug sie mit einem Stein auf das Eins, bis es brach. Tatsächlich: Da war kein Wasser, aber eine rostige Leiter. Sie stieg hinab und kam an das Bächlein am Grundes des Brunnens.

Sie folgte dem Bächlein ein Stück und begann, die schmutzigen, alten Kleider in den Bach zu halten. Da kam die Herrin und sah sie zornig an. Doch die Stiefmutter tat, als wäre sie ganz unterwürfig und gehorsam – nd auch sie wurde zu dem großen Haus geführt, in dem sie dienen sollte. Doch sie wollte nicht dienen, sondern war begierig nach dem Gold und den Edelsteinen und tat, was ihr aufgetragen ward, nur halbherzig und widerwillig. Immer wieder versuchte sie, die Tür zu öffnen, die ihr die Herrin verboten hatte.

So dauerte es nur wenige Tage, bis die Herrin zu ihr sagte: „Du hast mir genug gedient. Gehe durch die Tür, durch die du immer gehen wolltest. Sie ist nun offen. Denke an das, was du dir wünschst – und du wirst deinen Lohn erhalten.“

Ohne weitere Worte wandte sich die Stiefmutter um und öffnete die Tür. Doch da war kein zauberhafter Garten, sondern ein düsterer Sumpf, in dem Feuer loderten und unheimliche Geister sie mit roten Augen anstarrten.

Viele Tage irrte die Stiefmutter umher, bis sie an ein Tor kam. Dort stand die Herrin, doch zweimal so groß wie zuvor.

„Wisse, Elende, dass ich die Frau Holle bin, der Herrin der Unterwelt. Dein schlechtes Herz hat sich seinen Lohn geholt. Und nun hinaus mit dir!“

Das Tor sprang auf, und die Stiefmutter wurde wie von der Hand eines Riesen hinausgeschleudert. Mit zerzaustem Haar, zerrissenen Kleidern und einem Korb voll schmutziger Wäsche stand sie wieder vor dem zugefrorenen Brunnen. Langsam ging sie nach Hause.

Doch ihr Herz war nicht ganz böse, sonst wäre sie nicht so leicht davongekommen. Von Stund an hieß sie die kleine Marie nie mehr Dumm-Mara, sondern Goldmariechen, und behandelte sie wie ihr eigenes Kind. Und im Laufe der Zeit gewannen sich die beiden sogar lieb.

Marie aber lebte lange und glücklich, und immer, wenn sie doch einmal traurig wurde, dachte sie an Frau Holle und an Johannes, ihren Bruder, der immer über sie wachte und den sie eines Tages wiedersehen würde.“

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